"Hat die Kirche noch eine Zukunft"

 

Markus Fricker, 23.2.23

 

Keinen Bezug mehr zur Kirche

Kürzlich hat das Online-Nachrichtenportal Watson ein Recherche mit dem Titel "Warum jungen Menschen aus der Kirche austreten - und warum sie bleiben" veröffentlicht. Es heisst darin: "Glauben junge Menschen überhaupt noch an Gott? Ein Blick auf die Kirchenaustrittsstatistiken zeichnet ein eher düsteres Bild für den Glauben: 2021 sind so viele Menschen aus der Kirche ausgetreten wie noch nie zuvor – die meisten Austritte betreffen Personen zwischen 25 und 34 Jahren."

 

Es wurden Interviews mit verschiedenen Personen geführt. Ein Mann sagte: "Ich bin nicht bereit, in meinem Leben über 30'000 Franken dafür auszugeben, dass der Pfarrer an meiner Beerdigung ein paar schöne Worte und Amen sagt." Mehr als 30'000 Franken hätte der 27-Jährige nach eigenen Berechnungen im Laufe seines Lebens für die Kirchensteuer ausgegeben – das war es ihm nicht wert. Er gesteht im Interview mit watson, dass er sich nicht tiefergreifend mit seinem Glauben auseinandergesetzt habe. Religion sei für ihn kein relevantes Thema, auch deshalb habe er sich letztendlich dazu entschieden, aus der Kirche auszutreten.

 

Das bringt es ziemlich klar auf den Punkt: Ein Grossteil gerade der jungen Leute bei uns hat keinen Bezug zur Kirche mehr. Es ist schlicht schleierhaft für sie, inwiefern Kirche für ihr Leben irgend eine Relevanz haben könnte, wozu es für sie gut sein könnte, in der Kirche zu sein – und dafür Geld zu bezahlen.

Dazu ein Zitat des Theologen und Religionssoziologen Detlef Pollak, den ich im letzten Dezember an einem kirchlichen Strategie-Kongress in Deutschland getroffen habe:
"Das Bedürfnis nach Religion ist abhandengekommen. Man braucht die Kirchen nicht mehr, weil sämtliche Funktionen der Daseinsbewältigung, -vorsorge und -absicherung anderweitig und besser realisiert werden. Heilung und Befreiung finden andernorts statt, so dass der Kern der christlicher Botschaft, das Heilsversprechen in Jesus Christus, in unserer modernen Gesellschaft kaum noch damit verknüpft werden kann."

 

Die Kirche, wie wir sie kennen, kommt an ihr Ende

Ich denke, dass wir uns noch viel klarer und entschiedener, als das bisher geschieht, der Realität eines grundlegenden Umbruchs stellen sollten: die Kirche, wie wir sie bisher kannten, kommt an ihr Ende! Dass man einfach, weil es so Brauch ist, zu einer der beiden grossen Kirchen gehört – das ist ja eigentlich schon länger nicht mehr ein gültiger Fakt. Aber mir scheint, dass es bei vielen, die in der Kirche tätig sind, irgendwie noch nicht ganz angekommen ist.

 

Ich habe selber die "alte Zeit" noch erlebt, als ich Anfang der 80er-Jahre ins Pfarramt eingestiegen bin. Da waren in der Schweiz noch über 90% der Einwohner entweder katholisch oder reformiert. 45% waren Mitglieder der reformierten Kirche. Danach ist das Ganze schwer ins Rutschen geraten. 2021 waren noch 21% der Einwohner der Schweiz reformiert. Klar, das hat auch mit Zuwanderung von Menschen mit anderer Religionszugehörigkeit zu tun. Aber Fakt bleibt, dass die reformierte Kirche eine heftige Erosion erlebt hat, die weiter ungebrochen im Gang ist.

 

Man kann es ja auch positiv deuten, dass die Menschen, die weiterhin in der Kirche bleiben, dies nicht einfach nur tun, weil es halt so Brauch ist und gar nichts anderes in Frage kommt, sondern, dass sie sich bewusst dazu entschieden haben. Und das hat eine andere Qualität. Nur – es werden immer weniger!

 

Wie kann Kirche relevant sein?

Die grosse Herausforderung für unsere Kirche ist aus meiner Sicht, dass wir es schaffen, Menschen heute begreiflich zu machen – und sie es auch erfahren zu lassen -, weshalb die Kirche für sie und die Gesellschaft relevant ist, was sie an Wertvollem zu bieten hat. Und also letztlich – weshalb es sich lohnt, in der Kirche dabei zu sein.

 

Das bedeutet – nach meiner Meinung – dass wir Kirche grundlegend reformieren und weiterentwickeln müssen. Eine Reform, die einfach auf dem Bisherigen aufbaut und es verbessern will, bleibt – um es mit einem Fachbegriff zu sagen - in der Kybernetik erster Ordnung stecken. Die Massnahmen und Aktivitäten führen nicht zu einer echten Veränderung und so wird das System nicht befähigt, eine neue Situation zu bewältigen. Ich mache ein Beispiel aus einer ganz anderen Branche: die Technik der Videorekorder konnte von einer Firma, die solche produzierte, eine Zeitlang immer weiter verbessert werden, aber als die digitalen Medien aufkamen, nützte es nichts mehr, den Videorekorder zu verbessern. Man musst den Sprung zu einer neuen Technologie machen – oder man wurde abgehängt.

 

So ist es auch in der Kirche – es braucht einen Sprung zu einem neue Verständnis, wie Kirche sich in der heutigen Zeit und Welt wertvoll einbringen und wie sie Menschen erreichen kann. Das geht nicht ohne disruptive Brüche, also ohne Dinge in Frage zu stellen und bisherige Gewissheiten und Handlungsweisen aufzugeben. Der Weg zu einer neuen Kirche braucht den Mut, in neue noch unbekannte Räume vorzustossen und bisher noch nicht Gedachtes zu denken.

 

Antwort auf die heutigen Fragen

Ich will das Ganze noch von einer anderen Seite her beleuchten: Viele der traditionellen existentiellen Fragen, mit denen die Kirche vertraut ist – und in denen sie die Menschen über Jahrhunderte begleitet und ihnen Antworten gegeben hat, finden heute bei den meisten Menschen keine Resonanz mehr.

 

Wenn wir weit zurück in die Zeit der Reformation gehen, sehen wir die Menschen von der Frage umgetrieben, wie sie vor Gott bestehen können – die "Frage nach dem gnädigen Gott" hat die Menschen bewegt. Die Reformatoren gaben damals die wohltuende Botschaft, dass den Menschen Gottes Gnade "allein aus Glauben" verheissen sei.

 

Beschäftigt heute Menschen die "Frage nach dem gnädigen Gott" noch? Eher weniger – oder nur wenige, würde ich sagen. Und es kommt dazu, dass viele traditionelle kirchliche Botschaften für Menschen heute total fremd wirken: dass es den Opfertod von Jesus brauchte, um die Menschen von ihren Sünden zu befreien – ja, dass Gott seinen Sohn opferte, um die Menschen zu retten. Das wirkt für einen Grossteil gerade junger Menschen wie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Aber auch andere theologische Botschaften, wie die Auferstehung von den Toten oder die Wiederkunft Christi sind heute nicht mehr wirklich anschlussfähig.

 

Dabei hat die christliche Tradition vieles, zu bieten, was unheimlich wertvoll ist für die persönliche Entwicklung der Menschen, aber auch für das Zusammenleben in der Gesellschaft. Ich nenne hier nur ein paar wenige Stichworte: Sich selber ganz annehmen zu können, sich als wertvoll erfahren. Der gute Umgang mit eigenen Schwächen und Fehlern. Heil werden. Der respektvolle Umgang mit anderen. Gegenseitig die jeweiligen Anliegen verstehen. Einander gelten lassen und mit unterschiedlichen Sichtweisen gut umgehen. Andern, die Hilfe und Unterstützung benötigen, zur Seite stehen. Die Schöpfung respektieren und bewahren.

 

Viele der christlichen Werte, die in den Geschichten der Bibel spürbar werden, haben Eingang gefunden in Bewegungen und Aktivitäten ausserhalb der Kirche: vieles im therapeutischen, sozialen und ökologischen Wirken ist geprägt von der Werten wie Mitmenschlichkeit und Respekt vor dem Leben, die in der biblischen Tradition gründen. Aber auch im demokratische Miteinander in unserer Gesellschaft findet das christliche Menschenbild seinen Ausdruck.

 

Theologische Inhalte übersetzen – anschlussfähig an die heutige Lebenswelt

Nun gilt es – nach meiner Meinung – selbstbewusst aber auch radikal das, was Kirche Wertvolles für Menschen und die Gesellschaft zu bieten hat, neu zu formulieren und mit den Lebenswelten der Menschen zu verknüpfen. Es geht darum, was in der unvergleichlichen Geschichte der Jesus Bewegung so viel Kraft hatte, in eine neue Zeit zu übersetzen.

 

Nur ein Beispiel, was ich damit meine: mich treibt es sehr um, wie in unserer Gesellschaft der Umgang untereinander und mit Leuten, die anders denken, zunehmend aggressiv und abwertend wird. Das ist einerseits in den sozialen Medien, die häufig unsoziale Medien sind, so – aber auch in den Diskussionen und Auseinandersetzungen zu politischen und gesellschaftlichen Fragen. Es wird immer mehr "auf den Mann, die Frau gespielt" wie es im Fussball heisst, wenn Fouls begangen werden. Der Mensch, der ein bestimmtes Anliegen vertritt, wird persönlich angegriffen, beleidigt und fertig gemacht. Wie wäre es, wenn die Kirche sich hier gezielt und voller Energie für einen wohltuenden Umgang miteinander einsetzen würde. Nicht als Mahnerin mit dem Zeigefinger, sondern indem gezeigt und gelebt wird, wie ein anderer Umgang für alle Seiten wohltuend ist und es möglich macht, gemeinsam gute und neue Lösungen zu entwickeln.  

 

Ich will in diesem Zusammenhang auf ein interessantes und auch herausforderndes Buch von Alain de Botton hinweisen: "Religion für Atheisten: Vom Nutzen der Religion für das Leben". Er zeigt darin auf, dass die Religion – gerade auch die christliche - einen Reichtum an Dingen zu bieten hat, die uns helfen, das Leben einfacher und sinnvoller zu gestalten: eine Ethik, damit Gemeinschaften friedlich miteinander leben; sie erfand Malerei, Architektur und Musik, die uns zum Staunen bringen; sie tröstet uns bei Tod, Schmerz und Leiden. Alain de Botton findet: Wir können viel von den Religionen lernen, um unser säkulares Leben reicher zu machen.

 

Ich möchte es nochmals sagen: wir können selbstbewusst darauf aufbauen, dass die Kirche sehr viel Wertvolles zu bieten hat. Und – wir müssen grundsätzlich neue Wege gehen, um das den Menschen nahe zu bringen.

 

Klar, es ist heikel – Neues wagen, Dinge in Frage zu stellen. Es ist nicht einfach, Vertrautes loszulassen und damit vielleicht auch treue Kirchenmitglieder, die das als Verlust sehen, weh zu tun.

 

Die grosse Herausforderung wird sein, die unterschiedlichen Meinungen, wofür die Kirche da ist – und wie es mit ihr weitergehen soll – auf eine sinnvolle Art miteinander ins Gespräch zu bringen – und das gegenseitige Verständnis zu fördern. Dazu gehört, dass gewürdigt wird, was den Menschen, die mit der Kirche auf eine traditionelle Art verbunden sind, , am Herzen liegt. Umgekehrt sollte genauso anerkannt und gewürdigt werden, dass diejenigen, welche Kirche neu denken und ausgestalten wollen, sich dafür einsetzen, dass die Kirche auf neue und zeitgemässe Art für Menschen relevant sein kann.

 

 

Es geht schliesslich darum, dass die Kirche ein Zukunft hat. Und allzu viel Zeit haben wir nicht mehr, finde ich.